History repeating..
Samstag abend, halb 1.
Zur Erniedrigung sind zwei Leute notwendig. Einer, der erniedrigt, und einer, den man erniedrigen will, oder vor allem: der sich erniedrigen läßt. Entfällt das letztere, ist also die passive Seite gegen jede Erniedrigung immun, dann verpuffen die Erniedrigungen in der Luft. Was übrigbleibt, sind nur lästige Verordnungen, die das tägliche Leben beeinflussen, aber keine Erniedrigung oder Unterdrückung darstellen, die die Seele bedrängen. Zu dieser Einstellung müste man die Juden erziehen. Ich radelte heute morgen über den Stadionkade, genoß den weiten Himmel über dem Stadtrand und atmete die frische nicht rationierte Luft. Und in der freien Natur überall Tafeln auf den Wegen, die für Juden gesperrt sind. Aber auch über dem einzigen Weg, der uns verblieben ist, wölbt sich der gesamte Himmel. Man kann uns nichts anhaben, man kann uns wirklich nichts anhaben. Man kann es uns recht ungemütilch machen, man kann uns der materiellen Güter berauben, auch der äußeren Bewegungsfreiheit, aber letzten Endes berauben wir uns selbst unserer besten Kräfte durch unsere falsche Einstellung. Weil wir uns verfolgt, erniedrigt und unterdrückt fühlen. Durch unseren Haß. Durch unsere Wichtigtuerei, hinter der sich die Angst verbirgt. Man darf durchaus manchmal traurig und niedergeschlagen über das uns Angetane sein; das ist menschlich und verständlich. Und dennoch: den größten Raubbau an uns treiben wir selbst. Ich finde das Leben schön und fühle mich frei. Der Himmel ist in mir ebenso weit gespannt wie über mir. Ich glaube an Gott, und ich glaube an die Menschen, das wage ich ohne falsche Scham zu sagen. Das Leben ist schwer, aber das ist nicht schlimm. Man muß beginnen, sich selbst ernst zu nehmen, und das übrige kommt von selbst. Und das „Arbeiten an sich selbst“ ist weiß Gott kein kränklicher Individualismus. Der Frieden kann nur dann zum echten Frieden werden, irgendwann später, wenn jedes Individuum den Frieden in sich selbst findet und den Haß gegen die Mitmenschen, gleich welcher Rasse oder welchen Volkes, in sich ausrottet, besiegt und zu etwas verwandelt, das kein Haß mehr ist, sondern auf weite Sicht vielleicht sogar zu Liebe werden könnte.
Aber das ist vermutlich zuviel gefordert. Und doch ist es die einzige Lösung. So könnte ich weitermachen, viele Seiten lang..
(Das Stückchen Ewigkeit, das man in sich trägt, kann man ebenson in einem einzigen Wort ausdrücken wie in zehn dicken Bänden abhandeln. Ich bin ein glücklicher Mensch und preise dieses Leben, jawohl, im Jahre des Herrn 1942, dem soundsovielten Kriegsjahr.)
Aus: "E. Hillesums Tagebuch"
aus E. Hillesum's Tagebuch
AntwortenLöschen